Es war einmal ein wunderschönes Tierreich namens Eichenstein, versteckt zwischen dichten Wäldern, sanften Hügeln und plätschernden Bächen. In diesem Land lebten alle Tiere in Frieden – Vögel, Rehe, Wildschweine, Bienen, Dachse und sogar ein paar seltene Luchse.
Doch eines Tages begannen die alten Raben, die auf den höchsten Zinnen des Baumes von Bundfels wohnten, unruhig zu krächzen.
„Ein Sturm kommt. Ein gefährlicher. Aus dem Nordschattengebirge steigen die Wölfe herab – sie wollen unser Land!“
Zuerst lachte man. „Wölfe? Ach was. Wir haben doch lange in Frieden gelebt!“, riefen die Rehe. Doch als die ersten Spuren im Schnee auftauchten, wurde allen klar: Es war ernst.
In einer Eiche, so dick wie zehn Bären, versammelte sich der Große Tierische Rat. Dort saßen: General Hennon, der alte, aber weise Löwe, der einst den Kampf gegen die feurigen Dachse überstanden hatte. Eule Pista, die klügste Denkerin weit und breit, mit einer Brille aus Kristallglas. Die Füchsin Stracka-Zimma, flink im Kopf und flink mit der Zunge. Die Dachsfrau Güleri, mutig, neugierig und eine der wenigen, die auch aufrecht gehen konnte.
General Hennon brüllte mit tiefer Stimme: „Wenn wir uns nicht vorbereiten, sind wir verloren. Ich fordere: den Neuen Tierdienst! Jedes junge Tier soll lernen, unser Land zu verteidigen!“
Ein Raunen ging durch den Baum. Die Kaninchen zuckten, die Wildkatzen fauchten. Noch nie hatte es so etwas gegeben!
Die Füchsin Stracka-Zimma sprang auf einen Ast.
„Wieso nur die jungen Männchen? Die Mädchen können genauso mutig sein!“
Güleri stampfte mit der Pfote.
„Wenn es um Schutz geht, zählt jedes Herz – egal, ob pelzig oder gefiedert!“
Eule Pista schloss die Augen und sagte:
„Dann lasst uns den Gleichpfoten-Dienst einführen. Wer kann und will, darf mitmachen. Auch kleine Tiere, auch Schnecken, auch Schildkröten.“
Einige lachten. Schildkröten? Die sind doch so langsam!
In einem Moosbett ganz am Rande des Waldes lebte Schildi, eine kleine Schildkröte mit einem grünen, glitzernden Panzer. Sie spielte gern mit ihrer Schneckenfreundin Minzli und sammelte leuchtende Kieselsteine.
Als der Aufruf zum Tierdienst kam, lachte ihr Onkel:
„Du willst da mitmachen? Du bist langsam wie ein Gänseblümchen bei Regen!“
Aber Schildi fühlte, dass sie helfen wollte. Ihre Oma hatte immer gesagt:
„Der Mut kommt nicht aus den Beinen, sondern aus dem Herzen.“
Sie packte ein Stück Apfel, ein Blatt als Zelt und ihren liebsten Kieselstein ein – und machte sich auf den Weg zur Tierwiese von Übungstein.
Auf der Tierwiese versammelten sich über hundert junge Tiere. Mäuse, Dachse, Füchse, Hirschkälber, ein Bienenvolk und sogar ein ängstlicher Maulwurf namens Morli.
Leiten sollte sie der mächtige Pfau Kommandant Gantor, der seinen bunten Federkragen trug wie eine Ritterrüstung.
„Tierdienst bedeutet nicht kämpfen“, rief Gantor. „Es bedeutet: aufeinander aufpassen, Zelte bauen, Spuren lesen, gemeinsam denken – und niemals aufgeben!“
Schildi war nicht schnell beim Rennen. Aber sie konnte sich gut Dinge merken. Wenn andere Tiere müde waren, sang sie Lieder oder baute aus Zweigen kleine Schutzburgen.
Sie freundete sich mit Lama Lea, dem Wuscheltier mit den langen Wimpern, und Waschbär Rollo an, der immer Quatsch machte – aber ein gutes Herz hatte.
Eines Tages sagte Gantor: „Heute kommt der Große Test. Ihr müsst eine vermisste Bienenkönigin im dunklen Wald finden – ohne Karte, nur mit dem, was ihr gelernt habt!“
Einige Tiere zitterten. Andere meckerten. Doch Schildi trat vor.
„Wenn wir zusammengehen, können wir alles schaffen.“
Sie bildeten ein Suchteam: Schildi mit ihrem Orientierungssinn, Lea mit ihrer Weitsicht, Morli unter der Erde, Rollo mit seiner Schnüffelnase. Sie suchten drei Tage lang, kämpften gegen dornige Sträucher, retteten eine Maus aus einer Fallgrube – und fanden schließlich die Bienenkönigin, die sich in einem Brombeerbusch verfangen hatte.
Zurück auf der Tierwiese wurden sie gefeiert wie Helden.
In der Nacht kam der Schatten. Die Wölfe näherten sich aus dem Gebirge. Sie wollten die Kornspeicher von Eichenstein erobern. Die Alten sagten: „Die Jungen sind nicht bereit!“
Doch General Hennon sprach:
„Sie sind bereit – vielleicht mehr als wir es je waren.“
Schildi stand an der Spitze der kleinen Tierarmee. „Wir kämpfen nicht mit Krallen. Wir schützen mit Herz und Verstand.“
Sie bauten Barrikaden aus Baumstämmen, legten Spiegel in die Bäume, um Licht zu blenden, und rollten große Nusskugeln – eine Idee von Rollo – die wie Kanonen über den Boden rasten.
Als die Wölfe kamen, wurden sie überrascht. Die Tiere standen Schulter an Schulter. Die Wölfe rochen keine Angst – nur Mut.
Sie zogen sich zurück.
Nach dem Sieg baute Eichenstein keine Mauern, sondern Schulen. Der Gleichpfoten-Dienst wurde für alle Tiere geöffnet – freiwillig, aber voller Abenteuer. Schildi wurde Lehrerin. Morli wurde der erste Tunnelmeister von Eichenstein. Lea wurde Pfadfinderin, und Rollo schrieb ein Buch: „Wie man mit Mut das Maul des Wolfes verlässt“
Auf dem Marktplatz von Bundfels steht heute eine Statue: eine kleine Schildkröte mit einem großen Herz.
Die Moral von der Geschichte
Man muss nicht groß oder schnell sein, um mutig zu sein. Mut heißt: Verantwortung übernehmen – für sich und für andere.
Und wenn alle mithelfen dürfen – ob Reh oder Rabe, Mädchen oder Junge, Schildkröte oder Biene – dann ist das Land stark.