Es war einmal auf einer kleinen Inselgruppe namens Mayotti, mitten im Großen Gewässer des Indischen Meeres, wo die Sonne warm auf die schimmernden Palmen schien und die Menschen von Früchten und Fischen lebten. Doch eines Tages zog ein Sturm herauf, wie ihn niemand je zuvor gesehen hatte. Die alten Weisen des Landes nannten ihn Chido, den Zornigen Wind, denn er heulte durch die Wälder, peitschte das Meer auf und riss alles mit sich, was ihm im Weg stand.

In einem kleinen Dorf nahe der Inselhauptstadt Moudzou, lebte ein Mädchen namens Amani. Sie war klug und mutig, mit Augen, die so tief wie das Meer schimmerten. Amani lebte mit ihrer Großmutter und ihrem kleinen Bruder Tano in einer Hütte aus Palmblättern und Holz. Die Menschen in ihrem Dorf hatten oft Geschichten von Stürmen erzählt, doch niemand hatte jemals einen wie Chido erlebt.

Eines Nachts, als die Sterne noch hell am Himmel funkelten, begann der Wind stärker zu wehen. Erst war es ein leises Rauschen, dann ein lautes Brüllen, das die Bäume knarren ließ. Die Menschen im Dorf liefen zusammen, und die Ältesten warnten: „Chido kommt! Sucht Schutz auf den Hügeln!“

Doch viele hatten Angst, ihre Häuser zurückzulassen. „Was, wenn wir unsere Felder verlieren?“, fragten sie. „Was, wenn wir nichts mehr haben, wenn wir zurückkehren?“ So blieben sie, trotz der Warnungen, in ihren Hütten.

Amani und ihre Familie aber hörten auf die Ältesten. Gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern schleppten sie sich durch den Wind auf einen sicheren Hügel. Von dort sahen sie, wie die ersten Wellen an die Küsten schlugen, wie der Sturm Dächer forttrug und Bäume entwurzelte. Die Großmutter flüsterte ein Gebet, und Amani hielt Tano fest an der Hand, während der Sturm tobte.

Am nächsten Morgen lag das Dorf in Trümmern. Die Hütten waren verschwunden, die Felder überflutet, und überall lagen Äste und Geröll. Amani weinte, als sie sah, dass ihr Zuhause zerstört war. Doch sie dachte auch an die anderen Familien, die nicht mit ihnen auf den Hügel gekommen waren. „Wir müssen ihnen helfen!“ rief sie. Und obwohl Tano zögerte, folgte er seiner großen Schwester.

Die Menschen begannen, nach Überlebenden zu suchen. Sie räumten Wege frei, trugen schwere Äste fort und riefen die Namen ihrer Freunde und Nachbarn. Manche fanden ihre Liebsten wohlbehalten, andere fanden sie nicht. Es war ein trauriger Tag, und die Menschen wussten, dass es lange dauern würde, bis alles wieder so sein würde wie zuvor.

Währenddessen war in einem fernen Land, dem Königreich Frankreich, ein Bote zu König Bruno geritten, um ihm von Chidos Zorn zu berichten. König Bruno schickte sogleich Soldaten und Helfer, um die Inselbewohner zu unterstützen. Mit ihnen kam ein tapferer Ritter namens Francois, der die Rettungsarbeiten leitete. Sie brachten Werkzeuge und Medizin, und überall auf Mayotti hörte man bald das Hämmern und Klopfen, als sie begannen, die Trümmer fortzuräumen.

„Habt Mut“, sagte Ritter Francois zu den Menschen. „Wir sind hier, um euch zu helfen.“

Amani war beeindruckt von dem Ritter. „Kann ich auch helfen?“ fragte sie. „Ich bin klein, aber ich bin stark.“

Der Ritter lachte. „Jedes Paar Hände zählt“, sagte er. So schloss sich Amani den Helfern an, trug Wasser zu den Arbeitern und half den Kindern, die ihre Eltern verloren hatten.

Doch nicht alle Gebiete der Insel waren leicht zu erreichen. Manche Dörfer lagen tief im Dschungel, und die Wege waren von umgestürzten Bäumen und Felsen versperrt. Amani hörte, wie die Helfer über die abgelegenen Orte sprachen.

„Dort gibt es sicher noch Überlebende“, sagte Ritter Francois. „Aber wie sollen wir sie erreichen?“

Amani erinnerte sich an die Geschichten ihrer Großmutter über geheime Pfade durch den Wald. „Ich kenne einen Weg“, sagte sie mutig. „Ich kann euch führen.“

Zunächst zögerten die Helfer, doch dann beschlossen sie, Amani zu vertrauen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, kletterten über Baumstämme und durchquerten reißende Bäche. Es war eine gefährliche Reise, aber Amani führte sie sicher zu den versteckten Dörfern.

Dort fanden sie Menschen, die dringend Hilfe brauchten. Die Bewohner hatten Tage ohne Nahrung oder sauberes Wasser überlebt. Die Helfer versorgten die Verletzten und brachten die Schwachen in Sicherheit. Amani fühlte sich stolz, dass sie etwas bewirken konnte.

Nach vielen Wochen harter Arbeit begann sich die Insel zu erholen. Neue Häuser wurden gebaut, stärker als die alten, und die Menschen arbeiteten zusammen, um ihre Felder wieder fruchtbar zu machen. Ritter Francois und die Helfer verabschiedeten sich, doch sie hinterließen Werkzeuge und Wissen, damit die Inselbewohner ihre Heimat sicherer machen konnten.

Amani und Tano halfen dabei, das Dorf wieder aufzubauen. Sie lernten, wie man Häuser aus Stein und Lehm errichtet, die den nächsten Sturm überstehen würden. Und sie erzählten die Geschichte von Chido, damit die Menschen nie wieder die Warnungen der Weisen ignorieren würden.

Viele Jahre später, als Amani selbst eine Großmutter war, erzählte sie ihren Enkeln von dem Sturm und den tapferen Helfern. „Chido war stark“, sagte sie, „aber unsere Gemeinschaft war stärker.“

Die Kinder hörten gespannt zu und versprachen, die Geschichten weiterzuerzählen. Und so lebte die Erinnerung an Chidos Zorn weiter, als Mahnung und Hoffnung zugleich – eine Erinnerung daran, dass Mut, Zusammenhalt und Weisheit selbst die schlimmsten Stürme überstehen können.

Und wenn die Sterne heute hell über Mayotti funkeln, erzählen die Wellen flüsternd von jenem Tag, als Amani und ihr Volk den Zornigen Wind überstanden.