In einem Land, das man Syrala nannte, lebte einst ein kleiner Drache namens Meroz.
Er war kein gewöhnlicher Drache – seine Schuppen funkelten wie Smaragde, wenn er lachte, und wenn er traurig war, wurden sie grau wie Staub.
Eines Nachts bebte die Erde. Die alten Burgen zerfielen, und dunkler Rauch stieg über den Bergen auf. Die Menschen und Drachen von Syrala rannten, flogen, krochen davon – jeder suchte Schutz vor den Feuern, die keine Drachenflammen waren.
Meroz versteckte sich unter einem Steinbogen und sah, wie sein geliebter Fluss Barada austrocknete. Da wusste er: Ich muss fort, sonst verlösche ich.
Mit zitternden Flügeln flog er über Wüsten, Meere und Sturmwolken, bis er ein neues Land erreichte: Germanien.
In Germanien war alles ordentlich. Die Häuser standen in Reihen wie Soldaten, die Straßen funkelten vor Sauberkeit, und selbst die Regenwolken schienen pünktlich zu kommen.
Meroz landete in der Stadt Berlon, wo die Menschen ihn staunend betrachteten.
Eine Frau mit silbernen Haaren – sie hieß Angila, die Königin des Landes – trat zu ihm.
„Du bist hier willkommen“, sagte sie freundlich. „Solange du Schutz brauchst, sollst du ihn haben.“
Die Leute waren neugierig auf den kleinen Drachen.
Er durfte in einer alten Backstube wohnen, wo sein Atem das Brot aufgehen ließ.
Er half den Kindern, Laternen zu basteln, die heller leuchteten als der Vollmond, und lernte von einem freundlichen Uhrmacher, wie man Geduld misst.
Doch manche Menschen waren misstrauisch.
„Wie lange will der bleiben?“ flüsterten sie.
„Er ist doch nicht von hier!“ sagten andere.
Und einer der lautesten, Fürst Friedric Merzan, verkündete eines Tages auf dem Marktplatz:
„Vielleicht ist Syrala jetzt sicher. Vielleicht sollten die Drachen heimfliegen!“
Meroz hörte das, und sein Herz wurde schwer. War es wirklich wieder sicher in Syrala?
In der Nacht träumte Meroz.
Er sah den Fluss Barada wieder fließen, hörte die alten Palmen rauschen und die Stimmen seiner Geschwister.
Der Wind flüsterte: „Komm heim, kleiner Drache. Dein Feuer fehlt uns.“
Als er erwachte, wusste er, dass er es versuchen musste.
Er verabschiedete sich von Angila, die ihm eine kleine goldene Feder schenkte.
„Diese Feder“, sagte sie, „gehört einem Vogel, der immer den Weg zurückfindet. Wenn du sie verlierst, vertraue deinem Herzen – es kennt die Richtung.“
Meroz flog los. Über ihm blitzte der Himmel, unter ihm tobte das Meer.
In den Bergen fror er fast zu Eis, und in der Wüste verlor er beinahe seine Kraft.
Doch überall traf er Menschen, die ihm halfen:
- Ein alter Fischer in Greeka gab ihm eine Muschel voller Wasser.
- Kinder in Turkia zeichneten ihm mit Kreide den Weg nach Osten.
- Und eine weise Schildkröte in der Wüste sagte:
„Wer fortgeht, um zu überleben, trägt immer zwei Heimatländer im Herzen.“
Nach vielen Wochen sah Meroz endlich die vertrauten Hügel von Syrala.
Doch Syrala war nicht mehr das Land, das er verlassen hatte.
Einige Drachen waren zurückgekehrt, doch viele Burgen waren leer.
Die Flüsse flossen wieder, aber schwach.
Die Menschen und Drachen, die geblieben waren, hatten gelernt, vorsichtiger miteinander zu leben.
Meroz half, die alten Steine zu stapeln, baute Brunnen und ließ mit seinem Feuer neues Glas entstehen, das die Sonne in tausend Farben brach.
Eines Tages fand er einen kleinen Apfelkern in seiner Tasche – er erinnerte sich, dass er ihn in Germanien gefunden hatte.
Er pflanzte ihn am Ufer des Barada.
Der Apfelbaum wuchs schnell, genährt vom Feuer des Drachen und der Hoffnung der Menschen.
Seine Früchte waren golden – außen süß, innen herb.
Wer von ihnen aß, erinnerte sich an seine Reise, an das, was er verloren, aber auch gewonnen hatte.
Bald kamen Kinder aus Syrala und Germanien zu Besuch.
Sie spielten unter dem Baum, lachten und erzählten sich Geschichten in zwei Sprachen.
Meroz hörte zu und lächelte.
Eines Tages fragte ein Mädchen:
„Meroz, was ist Heimat?“
Der Drache dachte lange nach. Dann sagte er:
„Heimat ist dort, wo dich jemand vermisst, wenn du fort bist –
und wo dich jemand versteht, wenn du zurückkommst.“
Als Meroz alt wurde, legte er sich unter den Baum und blickte in den Himmel.
Er sah Wolken in der Form von Drachen, und er wusste: Manche von ihnen flogen nach Germanien, um dort Schutz zu suchen.
Andere blieben.
Aber jeder, der einmal unter dem Baum der Rückkehr gesessen hatte, wusste: Trennung und Wiedersehen gehören zusammen wie Regen und Sonne.
Und wenn in Germanien ein Wind aus Syrala wehte, flüsterte er den Kindern zu:
„Hilf, wenn jemand fliegt. Hör zu, wenn jemand heimkehrt. Denn beides ist Mut.“