Es war einmal, weit hinter Wäldern und Flüssen, ein Königreich, das Lichtland genannt wurde. In Lichtland lebten die Menschen glücklich. Sie sangen am Abend Lieder, wenn die Sonne unterging, sie pflanzten ihre Felder und erzählten ihren Kindern Geschichten vom Mut und vom Glück. Über sie wachte Königin Ukrina. Sie war jung, mutig und gütig. Jeden Abend stieg sie auf den höchsten Turm des Schlosses und sprach:
„Möge das Licht über unser Land wachen.“
Doch nicht weit entfernt, im Osten, lag das Reich Russor. Dort regierte Zar Puton. In seiner Brust loderte eine dunkle Flamme, die ihm ständig zuflüsterte: „Nimm mehr! Herrsche über alles! Niemand soll frei sein neben dir.“ Puton hörte immerzu auf diese Stimme und vergaß, dass Glück und Frieden wichtiger sind als Macht und Angst.
Eines Morgens, als der Himmel von dunklen Wolken überzogen war, ließ Puton seine Drachen aus Eisen aufsteigen. Sie donnerten mit Flügeln wie gewaltige Trommeln, sie spien Feuer, und die Felder Lichtlands brannten. Menschen flohen aus ihren Häusern, Kinder drückten sich an ihre Mütter, und überall lag Furcht in der Luft.
Da trat Ukrina auf den Turm und rief: „Fürchtet euch nicht! Wir sind stark, wenn wir zusammenstehen! Wir sind nicht allein!“
Und sie sandte ihre Boten hinaus in alle Himmelsrichtungen. Einer ritt nach Westen in die große Stadt Berlon. Dort lebte Ritter Berlon, der Schilde aus Silber schmiedete, die kein Feuer durchdringen konnte. „Nehmt diese Schilde“, sprach er, „sie werden euch schützen.“ Ein zweiter Bote zog nach Norden zu Zauberin Nata, die den Wind und das Meer beherrschte. Sie gab Ukrina Fläschchen mit Tränken, die den Mut vergrößerten und die Herzen stark machten. Ein dritter Bote reiste zu den Stämmen der Europanier im Süden. Sie gaben Ukrina Gold, damit sie ihre Städte erneuern konnte, Kräuter, die die Wunden heilten, und Pferde, die schnell wie der Sturm ritten.
Als die Drachen erneut über Lichtland kamen, waren die Menschen bereit. Sie erhoben die Schilde, sie tranken den Muttrank, sie ritten auf den starken Pferden, und gemeinsam trieben sie die Drachen zurück. Die Schlacht war lang, doch am Ende jubelten die Menschen. Puton aber spürte in seiner Brust, wie die dunkle Flamme ihn brannte, als wollte sie ihn selbst verschlingen.
Doch Ukrina wusste: Der Krieg war noch nicht vorbei. So begab sie sich in den geheimnisvollen Wald der Stimmen. Dort rauschte es in den Bäumen wie ein Chor, der alle Gedanken kannte. „Nur wer das Herz seines Volkes in sich trägt, darf unsere Kraft empfangen“, flüsterten die Stimmen.
Ukrina bestand drei Prüfungen. Zuerst stand sie einem schwarzen Drachen gegenüber. Ohne Schild, ohne Schwert sprach sie: „Ich fürchte dich nicht, solange mein Volk hinter mir steht.“ Da wich der Drache zurück. Danach sah sie in einen Spiegel, der ihr ihre Zweifel zeigte. Doch sie sagte: „Auch mit meinen Schwächen bin ich stark, denn die Liebe meines Volkes trägt mich.“ Der Spiegel zerbrach in tausend Scherben. Schließlich fand sie ein verletztes Reh. Sie beugte sich hinab, heilte seine Wunden und sprach leise Worte. Da stand das Reh auf und folgte ihr dankbar.
Die Geister des Waldes traten hervor und gaben ihr einen Kristall, der heller leuchtete als jeder Stern. „Dies ist der Kristall der Hoffnung“, sagten sie, „mit ihm kannst du selbst die dunkelste Flamme besiegen.“
Puton aber sammelte all seine Drachen. So viele, dass der Himmel schwarz wurde und selbst die Sonne nicht mehr zu sehen war. „Zerreißt Lichtland!“, brüllte er. Doch Ukrina trat ihnen entgegen, den Kristall hoch erhoben. Ein Strahl des reinsten Lichts brach hervor, heller als die Sonne. Das Licht berührte die Drachen, und in ihren Herzen erwachte ein Funken Güte. Sie senkten die Flügel und flogen davon, zurück in die Berge.
Puton stand allein in seiner Halle. Die dunkle Flamme loderte und loderte, bis er erkannte, dass sie nicht Lichtland, sondern ihn selbst verzehrte.
In Lichtland aber jubelten die Menschen. Sie pflanzten neue Bäume auf verbrannten Feldern, bauten ihre Häuser wieder auf und sangen ihre Lieder. Kinder tanzten, und in den Dörfern erklang Musik, heller als je zuvor. Ukrina lächelte und sprach: „Wir haben nicht nur mit Schwert und Schild gewonnen, sondern mit Mut, mit Wahrheit und mit Mitgefühl. Gemeinsam sind wir stärker als jede Dunkelheit.“
Und so lehrt dieses Märchen: Wer nur nimmt und zerstört, verliert am Ende alles. Doch wer Hoffnung, Mut und Mitgefühl bewahrt, der kann selbst die schwärzeste Nacht vertreiben. Denn das Licht, das in den Herzen leuchtet, ist stärker als jede dunkle Flamme.